Heidi Pfäffli - Vernissage Galerie Kriens, 23. April 2010,
Über Malungen und Flüge

„Der menschliche Geist ist nichts anderes als ein mächtiger Palimpsest, ein Text, bestehend aus unzähligen Schichten von abgelagerten Ideen, Bildern und Gefühlen.“ (Thomas De Quincey)

Bei meinem ersten Atelierbesuch zeigte mir Bea als erstes ihre Buchobjekte. Aufgefächert wie farbige Falter klebten sie an der weissen Wand, gleichsam Geschichten erzählend – in bunten Farben, in sprechenden Zeichen. Der darunterliegende Text schimmerte an manchen Stellen durch die oft nur lasierend aufgetragene Farbe. – Palimpseste, dachte ich sofort! – Ein Palimpsest ist, in seiner ursprünglichen Bedeutung, ein altes Schriftstück, das durch Schaben oder Waschen gereinigt und danach neu beschrieben wurde. Im Altgriechischen bedeutet palin „wieder“ und psaein „reiben“ oder auch „abschaben“. Der Vorgang des Wiederbeschreibens ist das, was man heute normalerweise als Palimpsestieren bezeichnet.

Nun stellen zwar Bea Portmanns Buchobjekte durchaus solche ‚’Überschreibungen’ oder besser Übermalungen dar. Es wird sich aber vielleicht zeigen lassen, dass auch alle andern hier ausgestellten Werke mehr oder weniger deutlich diesem Gestaltungsmuster der Übermalung folgen.

Am Beispiel der hier in Raum 1 ausgestellten Moved Papers lässt sich das sehr schön verdeutlichen:

Bea schilderte mir den Arbeitsprozess dazu in Form von vier Bewegungen, welche sich in ebenso vielen Übermalungen oder Schichtungen darstellen lassen:

Die erste Bewegung besteht darin, das Papier mit Wasser zu bestreichen. – Erste Schicht: Wasser auf Papier.

Dieses Bestreichen bewirkt seinerseits eine Bewegung des Papiers, nämlich jene von der Fläche in den Raum. Das Papier wellt sich. Es zeigen sich feine Rillen und Riffelungen. – Zweite Schicht: Ausdehnungs- und Trocknungsprozess des Papiers.

Die so strukturierten Blätter werden nun in einer weiteren Bewegung in mehreren Durchgängen übermalt. – Dritte Schicht: Farbauftrag auf Riffelung.

Diese Übermalungen werden wiederholt, bis sich Kontraste und Konturen zeigen, bis die Farbe in den Augen zu schillern beginnt. – Daraus ergibt sich die vierte und letzte Schicht: optischer Reiz und Interpretation der BetrachterIn.

Dem selben Verfahren entstammen auch die Werke in Raum 2. Sie tragen den Titel schwarz, weiss und ocker dazwischen. Dem Titel entsprechend unterscheiden sich diese Bilder von den eben beschriebenen darin, dass sie mit äusserst beschränkter Farbpalette auskommen. Die Beschränkung verdeutlicht die Erfahrung der Vielfalt. Bea bezeichnet diese Bilder auch als archaisch: Aus Licht, Dunkel und Erde entsteht eine Welt. Schöpfung – der Anfang aller Gestaltung.

Die Blätter in Raum 3 mit dem Titel weite Himmel – weite Welt scheinen sich nun aber nicht in das bezeichnete Muster der Übermalung einfügen zu lassen. Einerseits sind es Resultate eines ganz anderen Verfahrens. Es sind Bleistiftzeichnungen auf Inkjetprint. Sie zeigen Orte und Situationen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Gebirge und Wolkenkratzer, Maiatempel und Jurten, Soldaten und tanzende Derwische, Wüsten, Gletscher, Meere und die schiere Weite des interstellaren Raumes. Sie alle ‚umschreiben’ einen fliegenden Teppich. – Welch märchenhaftes Sujet! – Aber, diesen Teppich gibt es wirklich! Er wurde in einer der früheren Ausstellungen gezeigt und ist ein Stück aus dem Nachlass der Mutter der Künstlerin, ein übermalter Teppich. Interpretierte Erinnerung?

Das Motiv des fliegenden Teppichs stammt aus der Welt der orientalischen Märchen. In der Geschichte der messingnen Stadt aus Tausendundeiner Nacht wird berichtet, dass Gott dem Wind befohlen habe, König Salomo auf einem Teppich einen Monat lang auf der Hin- und eben so lang auf der Rückreise zu tragen. Der Beschreibung nach war dieser Teppich so riesig, dass Salomo seinen gesamten Hofstaat, ja alle Kreaturen seiner Welt darauf versammeln konnte. Die Geschichte beschreibt folgendes:

"[König Salomo] sammelte alsbald Menschen und Geister und Vögel und wilde Tiere, befahl dann dem Löwen, dem König der vierfüßigen Tiere, alle reißenden Tiere aus den Wüsten und Einöden zu versammeln. Er rief dann den Adler, den König der Vögel, und befahl ihm, alle Raubvögel zusammen fliegen zu lassen. Seinem Vezier Damuriat erteilte er den Befehl, alle Genien und Teufel und widerspenstigen Geister zu rufen, und Asaf, den Sohn Berahjas, beauftragte er, alle menschlichen Truppen zusammenzubringen. Als alles in unzählbarer Masse sich eingestellt hatte, setzte sich Salomo mit seinen Scharen auf seinen Teppich; die Vögel flogen über ihm und die Menschen und Genien gingen vor ihm her. [...] Er selbst schwebte auf seinem vom Winde getragenen Teppiche in der Luft."

Gleichsam wie König Salomo reist auch die Malerin auf ihrem fliegenden Teppich durch die Welt, durch die Welt ihrer Erinnerungen und Vorstellungen allerdings. Und sie reist allein. Der Teppich befähigt sie, ferne, für sie unerreichbare Reiseziele im Fluge zu erreichen: Es sind Orte des Traumes, aber auch Orte des Schreckens und der Ödnis. – Der Teppich hat weitere Besonderheiten: Er zeigt die Welt aus der Vogelperspektive. Aus dieser Sicht erst werden die grossen Strukturen und Kontexte deutlich. Dabei zeige sich die Verletzlichkeit der Erde, meinte Bea. – Dieser wunderbare Teppich kann aber auch die Zeit überwinden. Dadurch symbolisiert er nichts Geringeres als die Fähigkeit, jede Stelle der individuellen und der kollektiven Erinnerung im Fluge zu erreichen und zu durchqueren auf Zukünftiges hin. – Einen solchen Teppich aber besitzen wir alle! Erinnern wir uns an die eingangs zitierten Worte Thomas De Quinceys:

„Der menschliche Geist ist nichts anderes als ein mächtiger Palimpsest, ein Text, bestehend aus unzähligen Schichten von abgelagerten Ideen, Bildern und Gefühlen.“ Und De Quincey fährt weiter: „Jede neue Schicht scheint jeweils alle vorherigen auszulöschen, aber in Wirklichkeit bestehen sie alle noch immer. Keine einzige wird jemals endgültig gelöscht.“ Heidi Pfaeffli-Bachmann, Kvarnstad, 10. April 2010